Grand Raid oder Grand Catastrophe
„Du hast in einem Rennen nichts verloren!“ Diesen Satz sagte ich mir bei jedem, der mich auf der letzten Abfahrt überholte. Also mindestens 20 Mal! Noch nie war ich so vorsichtig und ängstlich bergab unterwegs. Oben tiefer Schotter, der jeden unkonzentrierten Moment mit üblen Abschürfungen bestrafen würde. Im mittleren Teil zwangen technische, verblockte Trails, teilweise neben der verlockenden Straße verlaufend, zum Absteigen. Das Finale in Form eines steilen Rütteltrails gab meinen Handgelenken und mir den Rest.
Ich redete mir ein, dass ich diese defensive Fahrweise einem kapitalen Sturz im Mai zu verdanken hätte. Ich saß schließlich drei Monate nicht auf dem Rad. Gerade mal drei Wochen vor dem Grand Raid konnte ich wieder fahren. Man kann sich die Welt auch schön reden.
Bis zum Abend vor dem Rennen war ich unschlüssig, ob ich überhaupt starten sollte. Schließlich waren 125km und über 5000 hm zu bewältigen und das während des härtesten Bike-Marathons Europas. Viele behaupten, der härteste, schönste, ultimative zu sein. Für mich war es in meinem Trainingszustand der härteste. Meine Annullierungsmail mit dem ärztlichen Attest war bereit. Ich musste nur den Knopf drücken und hätte mir einen schönen Samstag machen können. Zu allem Übel war auch noch ergiebiger Regen gemeldet. Nicht gerade ein überzeugendes Argument für eine Teilnahme. Wie bei jedem Marathon übernahmen Automatismen die Kontrolle über mich: Startnummer holen, Bike checken (lassen), Ausrüstung vorbereiten. Die Mail musste ich spätestens bis zum Startschuss abgeschickt haben. Also noch genug Zeit.
Renntag: Der Wecker klingelt wie immer viel zu früh. Roboterartig anziehen und frühstücken. Zum Reden habe ich keinen Bock! Rauf aufs Rad und ab in die Gondel, die mich hinauf zum Start befördern soll. Ich frage mich, was ich da mache. Um mich herum finstere Nacht und ich hocke in dieser Kabine wie in einem Beichtstuhl. Die Buße wird den ganzen Tag dauern. Mein Bike hängt außen am Paternoster hinauf in die Hölle. Ich könnte auch einfach sitzen bleiben und wieder runterfahren. Mir ist alles egal, außer mein Leben. Da taucht plötzlich eine Stimme auf: „Hey Du hast nichts zu verlieren“! Ich bin bereit zu büßen dafür dass ich diese blöde Mail nicht geschickt habe.
Mittlerweile tiefenentspannt rolle ich an den Start. Es ist immer noch dunkel. Der Grand Raid beginnt harmlos und wird mit jedem Meter schwieriger. Wir passieren wunderschöne Bergdörfer umrahmt von Gletschern. Nach 4h kommt der angekündigte Regen. Zum Glück bin ich gerade bergauf unterwegs. Am Mandelon muss ich das erste Mal einige verblockte Passagen schieben. Dann verabschiedet sich auf der Abfahrt mein Garmin. Ich könnte das auch tun, aber hey ich schaffe das ja. Bergauf überhole ich einige Kollegen und liege am Aufstieg zum Pas de Lonas sogar im 9h-Bereich. Hätte eher mit 12 Stunden gerechnet. Dieser Marathon ist geprägt vom Zwiespalt: Starten – Ausschlafen, Weitermachen – Aufgeben, Passable Zeit – Finishen. Ich gebe dem Finishen Priorität. Die Auffahrt zieht sich bis zu dem legendären Schiebestück ewig in die Länge. Ich bin immer noch am Überholen. Das Bike schieben/tragen ist nach 4500 gefahrenen Höhenmetern kein Zuckerschlecken, erst Recht nicht nach meiner Oberschenkelverletzung. Dieses Biest verlangt mir alles ab. Es saugt mich aus. Es will mir sogar den Willen brechen. Ich fühle wie mein Körper das letzte Korn zerschmilzt. Es fehlen eigentlich nur noch kleine Engel am Wegesrand, die mit dem Paradies locken. Aber hier entscheide ich. Noch! Das letzte Gel hilft mir vor allem mental. Einige Konkurrenten werden von ihren Partnerinnen motiviert und hinauf begleitet. Ein paar feuern mich an: Thomas buon passage! Dieser Pass ist der Scharfrichter, zehn Mal schlimmer als das Timmelsjoch! Oben angekommen geht es natürlich nicht gleich bergab. Es muss noch ein Gegenanstieg gemeistert werden. Als einer der Wenigen mache ich das fahrend. Dann kommt die alles erlösende Abfahrt. Nur dass sie alles andere als eine Erlösung, sondern eine zynische letzte Prüfung ist. Tja und dann bekommst Du auch noch mental eine rein, indem Du durchgereicht wirst. Im Ziel denke ich mir „egal, hey Du hast es ja echt geschafft“ und bin sogar ein wenig stolz. Ich freue mich jetzt auf die Zielverpflegung, mal richtig reinhauen. Habe ganz vergessen: Das ist ja der härteste. Es gibt keine. Stattdessen hocke ich nach ewiger Zeit im Zielbereich eine weitere Ewigkeit im Bus zurück nach Verbier.
So habe ich den 20. August verbracht:
20 Minuten in der Gondel
40 Minuten im Startblock
10h auf dem Bike
1h im Ziel
1h im wartenden Bus
2h im fahrenden Bus.
Und das alles, weil der Grand Raid auf einer Liste stand. Haken dran!