276 km 7100 hm
Die Nacht verlief ungewohnt ruhig. Die Triple Ts Thorsi, Tilli und Thomas schauen müde aus dem Fenster. Die alles entscheidende Frage: Wie ist das Wetter? In der Dunkelheit kann man die Wolken tief im Tal hängen sehen. Zum Glück ist es trocken. Wir praktizieren Zwangsernährung am eigenen Leib. Am schlimmsten ist der abschließende Oatsnack, er will einfach nicht runter. Um ca. 6:30 Uhr machen wir uns auf den Weg zum Start. Vorher vertrödeln wir noch Zeit mit einem Startfoto. Alpenbrevet … wir kommen! Am Start reihen wir uns selbstbewusst in die schnellste Gruppe ein. Noch genug Zeit, ein paar Bissen Powerbar zu sich zu nehmen bevor der Sprecher die Sekunden runterzählt. Es geht los! Wir fahren zu dritt in einem großen Pulk nach Innertkirchen. Von dort geht es ohne Vorwarnung hinauf zum Grimsel. Nach einer gewissen Zeit sind Tilli und ich ohne Thorsi (der Gold fährt) unterwegs. Auf dem Pass ist es ungemütlich, aber trocken. Schnell die Regenjacke an und hinein in die Abfahrt. Ich kann mich an keinen Meter mehr dieser Abfahrt erinnern. Dafür umso mehr an die nächste Bergfahrt. Der Nufenen ist steil, ich quäle mich mit meinem 25er Ritzel den Berg hinauf und verfluche mich selbst, dass ich nicht eine leichtere Übersetzung montiert habe. Ich wollte es so haben, werde von etlichen Mitstreitern überholt, sogar von einem Typen mit einem gepimpten Mountainbike. Mein Puls ist nicht im normalen Bereich, ich habe keine Power, nichts passt. Ich halte an, um meinen Sattel gerade zu stellen und spiele mit dem Gedanken, auf die Goldstrecke abzubiegen. Der Blick hinauf zum Pass verheißt nichts Gutes. Dichte Wolken umhüllen die Berge um mich herum. Endlich bin ich oben und werde sofort von Tilli mit einem Foto begrüßt. Ich mampfe schnell alles, was es gibt, in mich hinein. Fastfood auf dem Nufenen: In der linken Wange Brot mit Käse, in der rechten eine Banane. Zum Schluss noch ein Schluck Maxim-Energy Drink. Bevor mir alles wieder hoch kommen kann, springe ich schnell auf mein Rad und wir stürzen uns in die nebelige Abfahrt.
Ich sehe fast nichts, die Brille beschlägt, es fängt an zu regnen. Mir ist saukalt und ich habe ein sehr unangenehmes Überschlagsgefühl. Tilli ist schon außer Sichtweite als ich ein weiteres Mal anhalten muss um die Sattelhöhe- und position neu einzustellen. Es geht alles sehr schnell. Nach ein paar Harakiri-Kurven sehe ich Tilli am Straßenrand auf mich warten. Das beruhigt mich und zu zweit fahren wir durch den Nebel hinab. Pötzlich taucht in einer Kehre schemenhaft ein Motorrad mitten auf der Fahrbahn vor mir auf. Ich gehe voll in die Eisen. Mein Hinterrad blockiert und ich drohe weg zu rutschen, schaffe es gerade noch so vorbei zu kommen. Ein Kollege hat sich wohl in dieser Kurve etwas verschätzt und ist gestürzt. Je weiter wir runter kommen desto nasser wird es. Im Tal ist der Nebel verschwunden. Wir befinden uns mittlerweile im italienischen Teil der Schweiz und kommen über eine halbe Stunde vor dem Zeitlimit in Airolo an.
Zwischenzeitlich sind wir in einer Gruppe von ca. acht Fahrern unterwegs. Die Platinstrecke ist jetzt ein Muss! Bei Gegenwind, Regen und einer gehörigen Dusche des Vordermannes geht es flott hinab zum tiefsten Punkt der Strecke nach Biasca. Von dort folgt auf elend langen 40km der Aufstieg zum 1800 Meter höher gelegenen Lukmanier. Die gesamte Auffahrt liegt wieder in dichten Wolken. Ich freue mich auf diesen Pass, flachere Steigungen liegen mir. Nach ca. 400hm habe ich meinen Tritt gefunden und trete mein Tempo den Pass hinauf. Der Nebel wird dichter und ich vermisse auf einmal Tilli hinter mir. Um mich herum sehe ich keine einzige Menschenseele. Stupide trete ich im Zwiegespräch mit meinem Oberrohr und schwerer Musik von Nirvana Meter um Meter hinauf. Das Nirvana in Form des Lukmaniers ist nicht mehr weit! Jeder vor mir im Nebel auftauchende Fahrer wird geschluckt, erst von mir, dann wieder vom Nebel. Bei KM167 bin ich oben, verpflege mich wieder und warte geduldig bei warmem Tee und kalter Cola auf Tilli. Als ich mit dem Gedanken spiele, weiter zu fahren und im warmen Tal zu warten, taucht er aus den Wolken auf. Jetzt geht es auf regennassen Betonplatten vom Lucomagno hinab nach Disentis. Wie üblich muss ich im Tal die Regenjacke im Trikot verstauen. Auf dem Weg zum Oberalp merke ich langsam, dass ich müde werde und lasse Tilli mit einem weiteren Radler ziehen. Zur Motivation trägt der Sichtkontakt zu den Beiden bei. Die Abfahrt vom Oberalp ist sehr flüssig und wir nehmen die Kurven wie kein anderer.
Nach Andermatt bläst uns der Wind ins Gesicht, dunkle Wolken rasen an uns vorüber und drohen uns zu verschlingen. Die Apokalypse ist nahe … nichts wie weg hier! Auf der folgenden Abfahrt ist der Verkehr auf einmal sehr dicht und wir überholen die Autos, wo immer es möglich ist. Zum Abschluss wartet noch der Susten mit 1300hm auf uns. Am Fuße des Passes muss ich anhalten und meine Jacke verstauen, es regnet wieder. Der Regen macht mir mittlerweile nichts mehr aus. Wie in Trance kurbele ich diesen Berg hoch. Schließlich kommt Tilli wieder in mein Blickfeld und ich drücke mir noch schnell mein letztes Gel rein. Auf einmal ein Tunnel, ich fühle mich an den Ötzi erinnert und schalte auf das große Blatt. Am Ende des Tunnels ist die letzte Verpflegung. Noch schnell werden ein paar Käsebrote und zwei Cola verschlungen bevor wir die letzte, grandiose Abfahrt hinab nach Innertkirchen in Angriff nehmen. 30km vor dem Ziel hat mein Tacho die Arbeit eingestellt. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er “absäuft”. Im Tal steht eine Hand voll Zuschauer Spalier und applaudiert uns. Nch 12 Stunden und 36 Minuten erreichen wir schließlich das Ziel. Mein letzter Blick auf den Tacho zeigte einen 24er Schnitt an. Dem entsprechend dürfte die reine Fahrzeit bei ca. 11:45 gelegen haben.
Am Schluss bleibt natürlich die Frage, ob 276 Kilometer und 7031 Höhenmeter die ultimative Herausforderung waren. Ich habe hoch gepokert: Zum einen mit einer Vorbereitung von nur 40.000hm und zum Zweiten mit einer -wie ich finde- für meine Physis gewagten Übersetzung. Das war für mich der eigentliche Reiz an der Geschichte. Leider haben wir den einzigen schlechten Tag der Woche erwischt, so konnten wir von den Schweizer Bergen nichts sehen. Dafür kenne ich jetzt jede Faser meines Oberrohres.